Hilfsfrist NEU - Rechtlicher Hintergrund

Ein Rettungsdienstgesetz für ALLE
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Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in seiner Entscheidung vom 05. Mai 2023 (Az. 6 S 2249/22) die Verpflichtung des Staates, ein funktionierendes Rettungsdienstsystem zur Verfügung zu stellen, als Grundrecht angesehen.

Das Gericht leitet dieses Grundrecht her aus Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz (GG), das den Schutz von Leben und Gesundheit zum Gegenstand hat: „Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG kann daher auch eine Schutzpflicht des Staates folgen, Vorsorge gegen Gesundheitsbeeinträchtigungen zu treffen […]. Bezogen auf den Rettungsdienst folgt aus der Schutzpflicht, dass der Staat verpflichtet ist, ein funktionierendes System des Rettungsdienstes zur Verfügung zu stellen […]“.

Das Gericht geht davon aus, dass diese Schutzpflicht und damit das Grundrecht der Bürger dann verletzt werden, wenn im Rettungsdienstgesetz oder bei dessen Ausführung offensichtlich ungeeignete oder völlig unzulängliche Regelungen und Maßnahmen getroffen werden oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel (funktionierendes Rettungsdienstsystem) zurückbleiben. Diese Verpflichtung trifft nicht nur den Gesetzgeber, sondern alle Stellen, die für den Rettungsdienst Verantwortung tragen (z.B. die Landesministerien). Denn der Rettungsdienst ist in allen Bundesländern als staatliches Monopol organisiert.

Aus dem Grundrecht auf Zurverfügungstellung eines funktionierenden Rettungsdienstsystems folgen im Wesentlichen drei Maßgaben: 

  • Erstens muss der Rettungsdienst aus Sicht der Patienten (Grundrechtsträger) geplant werden. So sind willkürliche – „ins Blaue hinein“ – getroffene Festlegungen von Hilfsfristen ohne notfallmedizinische Grundlage, als „ungeeignet“ und damit als grundrechtswidrig anzusehen.

    Konkret muss der Rettungsdienst so geplant werden, dass er die aktuellen notfallmedizinischen Erkenntnisse, insbesondere zu den Eintreffzeiten von (professioneller) Hilfe, zu berücksichtigen hat. Dem Gesetzgeber steht hier ein weiter „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum“ zu, soweit und solange er im Hinblick auf die maßgeblichen medizinischen Grundlagen geeignete und hinreichende Regelungen und Maßnahmen ergreift.
  • Zweitens ist der Gesetzgeber ebenso wie die Verwaltung verpflichtet, die auf dieser Basis definierte Funktionsfähigkeit des Rettungsdienstsystems organisatorisch sicherzustellen.

    Werden - wie in Baden-Württemberg - die maßgeblichen Kennzahlen nicht einmal erhoben und flächendeckend auf Dauer nicht eingehalten, liegt hierin eine Grundrechtsverletzung, sodass dem Bürger entsprechende Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche aus dieser Amtspflichtverletzung zustehen können.

    Eine strafrechtliche Haftung der verantwortlichen Personen ist ebenfalls nicht auszuschließen: „Entsprechende Defizite bestehen ferner - ohne dass es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit darauf ankäme - bei der statistischen Auswertung der Zielerreichung. Der Zielerreichungsgrad ist in der Vergangenheit regelmäßig nur bezogen auf die gesetzliche Höchstfrist von 15 Minuten erhoben worden […], so dass aktuell keine belastbaren Aussagen dazu getroffen werden können, inwieweit die 10-Minuten-Frist in der Notfallrettung in der Praxis eingehalten wird.“
  • Drittens steht das Grundrecht auf Vorhaltung eines funktionierenden Rettungsdienstsystems jedem Bürger zu, da es sich bei Art. 2 GG um ein sogenanntes „Jedermanngrundrecht“ handelt.

    Damit muss der Staat auch im Hinblick auf Bürger mit besonderen Anforderungen an den Rettungsdienst (Neugeborene, Säuglinge, adipöse Patienten etc.) planerische Vorkehrungen treffen, um auch für diese Patientengruppen ein funktionierendes Rettungsdienstsystem vorzuhalten.

    Erschwerend kommt hinzu, dass bestimmte Patientengruppen sich auch noch auf das Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 GG („Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“) berufen können. Dies insbesondere für Patientengruppen bedeutsam, die eine besondere Art der notfallmedizinischen Behandlung benötigen, wie z.B. psychisch kranke Patienten, die die (bestehende) Rettungsdienststruktur in Deutschland aktuell – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht hinreichend berücksichtigt.
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