Björn Steiger Stiftung erhebt Verfassungs­beschwerde

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Die Björn Steiger Stiftung hat am 13. März 2025 beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland und exemplarisch für alle Bundesländer gegen das Land Baden-Württemberg erhoben. In politisch turbulenten Zeiten, in denen Zusammenhalt geboten ist, ist die Verfassungsbeschwerde als Mittel zum Zweck und alternativloser Weg zu sehen, systemische Missstände im Rettungsdienst zu beseitigen. Die Beschwerde hat zwei Kernpunkte: Zum einen kommt nach Ansicht der Verfassungsjuristen und Rettungsdienst-Experten der Stiftung der Bund seiner Aufgabe, die Notfallversorgung der Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen, nur unzureichend nach und stellt kein durchgängig funktionierendes, flächendeckendes Rettungsdienst-System mit bundesweit vergleichbaren Qualitätsstandards zur Verfügung. Zum anderen verletzt das baden-württembergische Rettungsdienstgesetz vom Juli 2024 das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Baden-Württemberg steht stellvertretend für alle Bundesländer, für die eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Auswirkungen haben könnte. Mit der Verfassungsbeschwerde will die Björn Steiger Stiftung den Missständen und Fehlentwicklungen im System des deutschen Rettungswesens entgegenwirken.

Das deutsche Rettungsdienst-System wird seinem Auftrag nicht gerecht

  • Die Björn Steiger Stiftung erhebt Verfassungsbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland und das Land Baden-Württemberg, um die Missstände im Rettungswesen zu beseitigen.
  • Das deutsche Rettungssystem ist im internationalen Vergleich schlecht aufgestellt und kostet Menschenleben.
  • Es gibt keine einheitlichen Standards: Die Überlebenschancen der Bürgerinnen und Bürger sind ortsabhängig.
  • Der Bund kommt seiner grundrechtlichen Schutzpflicht und Garantenstellung nicht nach, einheitliche Regeln für die Versorgung in der Notfallrettung festzulegen.
  • Das neue baden-württembergische Rettungsdienstgesetz verfestigt die Ungleichheiten im Rettungsdienstsystem und ist verfassungswidrig.
  • Das Land Baden-Württemberg steht stellvertretend für alle Bundesländer.
  • Die Verfassungsbeschwerde richtet sich ausschließlich gegen das System, nicht gegen die hervorragend ausgebildeten Rettungskräfte, die selbst Benachteiligte des Systems sind.


Das deutsche Rettungswesen weist erhebliche Mängel auf

„Seit Jahren bemängeln wir, dass das Rettungswesen in Deutschland deutlich hinter den internationalen Standards zurückbleibt. Mehr noch: Systembedingt sterben täglich Menschen, obwohl dies vermeidbar wäre, und unseren hochqualifizierten Rettungskräften sind die Hände gebunden. Dieser Zustand ist unerträglich, vor allem vor dem Hintergrund, dass die anhaltende politische Diskussion in den letzten zwanzig Jahren keinerlei echte Verbesserungen gebracht hat. Deshalb haben wir uns für den letzten möglichen Weg der Verfassungsbeschwerde entschieden“, erklärt Pierre-Enric Steiger, Präsident der Björn Steiger Stiftung. Das Rettungswesen befindet sich seit Jahren in einer lebensbedrohlichen Systemkrise: Die Fallzahlen der Notrufe sind stark gestiegen, jedoch wird der Rettungsdienst häufig durch Einsätze in nicht lebensbedrohlichen Fällen blockiert, sodass er für echte Notfälle nicht verfügbar ist. Die Länge und Berechnung der Hilfsfristen – wann also ein Rettungswagen nach Absetzen des Notrufs eintreffen muss – werden unterschiedlich gehandhabt. Es gibt erhebliche Qualitätsunterschiede in der geografischen Fläche sowie zwischen Stadt und Land. Wann und welche Hilfeleistung die Bürgerinnen und Bürger im Notfall tatsächlich erhalten, hängt damit vom Standort ab, nicht von einer bundesweit einheitlich geregelten Grundversorgung. Häufig ist die ländliche Versorgung sogar besser als die städtische. „Aus medizinischer Sicht ist es inakzeptabel, dass der Bund seiner Verpflichtung, einen einheitlichen Rettungsstandard vorzugeben, immer noch nicht nachkommt. Für das Krankenhaus und den ärztlichen Bereich gibt es diese Vorgaben, für das Rettungswesen nicht. Es kann nicht sein, dass Menschen je nach Wohnort unterschiedliche Überlebenschancen haben. Es muss eine Qualitätssicherung für Ärzte und Patienten geben, die nicht an den Grenzen der Bundesländer scheitert“, sagt Frank Ulrich Montgomery, Ehrenpräsident der Bundesärztekammer und Mitglied des Präsidialrats der Björn Steiger Stiftung.

Der Bund kommt seiner „Garantenstellung“ nicht nach

Die Björn Steiger Stiftung ist der Ansicht, dass der Bundesgesetzgeber seine grundrechtliche Schutzpflicht vernachlässigt, weil er es versäumt hat, einheitliche Regelungen für Leistungen in der Notfallrettung zu definieren. Der Bund finanziert die medizinische Infrastruktur einschließlich der Notfallrettung über die Sozialversicherung und hat damit eine Garantenstellung für die Notfallrettung übernommen. „Wer Leistungen zahlt, muss sich auch darum kümmern, was die Menschen dafür bekommen. Diese Garantenstellung erstreckt sich auf die Qualität der Notfallrettung. Qualitätsmaßstab ist nach den Grundrechten der Lebensschutz und der sozialrechtliche Grundsatz: gleiche Beiträge, gleiche Leistungen", so Prof. Dr. Wolfgang Spoerr, Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Die Ausgestaltung der Notfallrettung durch die Länder, die auf der indirekten Finanzierung durch die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) beruht, erreicht nach Ansicht der Björn Steiger Stiftung das gebotene Schutzziel jedoch weder flächendeckend in den Ländern noch in der gebotenen gleichmäßigen Qualität. Die Qualitätsunterschiede verletzen den Anspruch insbesondere der GKV-Versicherten auf Gleichbehandlung. Das grundrechtlich gebotene Mindestschutzziel muss darin bestehen, eine Notfallrettung zu organisieren, die bei lebensbedrohlichen Erkrankungen die Überlebenschancen des Patienten wahrt und nicht durch unzureichende personelle und materielle Ausstattung sowie zu lange Hilfsfristen negativ beeinträchtigt. Wie schlecht es darum bestellt ist, zeigt exemplarisch das Rettungsdienstgesetz in Baden-Württemberg.

Das Rettungsdienstgesetz von Baden-Württemberg verletzt Grundrechte

Das am 1. Juli in Baden-Württemberg in Kraft getretene Rettungsdienstgesetz fördert nach Ansicht der Björn Steiger Stiftung fehlerhafte Vorgaben und veraltete Organisationsstrukturen. Zuständigkeiten und Strukturen im Notfall seien nicht umfassend geklärt, entsprechen nicht internationalen Standards und verringern die Überlebenschancen lebensbedrohlich Erkrankter in Baden-Württemberg. „Aus dem Schutz der Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG, und dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 Satz 1, folgt ein verfassungsrechtlicher Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf ein funktionierendes Rettungsdienstsystem, das mit dem Gesetz jedoch nicht gegeben ist“, sagt Prof. Dr. Andreas Pitz, ehemaliger Richter und Direktor des Instituts für Gesundheits- und Life Science Recht der Technischen Hochschule Mannheim. Exemplarisch für viele Unzulänglichkeiten des Gesetzes hier ein einfaches Beispiel: Der Gesetzgeber hat die Hilfsfrist für lebensbedrohliche Notfälle effektiv erhöht. Vormals galten in Baden-Württemberg zehn bis maximal 15 Minuten bis zum Eintreffen des Rettungswagens und des Notarztes für alle Notfälle. Die Hilfsfrist startete vormals mit dem Eingang des Notrufs in der Leitstelle. Jetzt gilt die Hilfsfrist nur noch ausschließlich für lebensbedrohliche Notfälle mit einer Zeit von zwölf Minuten. Allerdings beginnt die Hilfsfrist nicht mit dem ersten Klingelzeichen, sondern erst mit der Einsatzdisponierung. Um die alte und die neue Hilfsfrist miteinander vergleichen zu können, müssen daher mindestens zwei bis drei Minuten zu den neuen zwölf Minuten hinzuaddiert werden. Somit verschlechtert sich die Hilfsfrist auf mindestens 14 bis 15 Minuten. Dieser reale Zeitverlust ist für jeden Patienten mit Herz-Kreislauf-Stillstand zu spät. Der Gesetzgeber hat somit jegliche notfallmedizinische Evidenz missachtet und unzulässige Planungsvorgaben im Gesetz verankert. Der Landesgesetzgeber hat zu keinem Zeitpunkt dargelegt, was ihn zu dieser Absenkung im Schutzniveau veranlasst hat.

Das Gesetz lässt darüber hinaus aufgrund der sechsjährigen Übergangsfrist offen, auf welcher Rechtsgrundlage die Notfallrettung in Baden-Württemberg derzeit durchgeführt wird. Ein Rettungsdienstplan, der wiederum Grundlage für die Rettungsdienstbereichspläne ist, liegt seit Inkrafttreten des Gesetzes am 01.07.2024 bis zur heutigen Einreichung der Verfassungsbeschwerde am 13.03.2025 immer noch nicht vor. Es fehlt daher in Baden-Württemberg bereits formell an einem die grundrechtliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG konkretisierenden Schutzkonzept mit materiellen Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit und Berechenbarkeit des Rettungsdienstes. „Baden-Württemberg steht exemplarisch für alle Bundesländer, die gesetzlich kein schlüssiges Konzept zur Gewährleistung eines funktionierenden Rettungssystems verankert haben. Insofern hätte eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Auswirkungen auch auf diese Bundesländer“, erklärt Pitz.

Lösungen zur Entlastung der Rettungshelfer

Die Björn Steiger Stiftung hat es sich seit ihrer Gründung zur Aufgabe gemacht, den Rettungsdienst kontinuierlich zu verbessern. Die Verfassungsbeschwerde ist ein vorläufiger Höhepunkt ihrer Bemühungen darum, Missstände im Rettungswesen aufzuzeigen und konkrete Verbesserungsvorschläge vorzulegen. Bereits 2019 hatte die Stiftung in einem Forderungspapier an die Politik entsprechende Lösungsansätze zur Neustrukturierung umfassend aufgezeigt. „Uns ist es wichtig, zu betonen, dass sich die Verfassungsbeschwerde ausschließlich gegen das System richtet, in dem die dort tätigen Rettungskräfte selbst Opfer und Benachteiligte sind“, stellt Pierre-Enric Steiger klar. Eine Änderung des Systems würde auch zu ihrer Entlastung führen und damit der Bevölkerung zugutekommen.

Bildunterschrift (von links nach rechts):
Unten: Prof. Dr. Wolfgang Spoerr - Rechtsanwalt und Honorarprofessor der Juristischen Fakultät, Humboldt-Universität zu Berlin, Noemi-Victoria Steiger - Vorständin der Björn Steiger Stiftung, Pierre-Enric Steiger - Präsident der Björn Steiger Stiftung, Christof Chwojka - Geschäftsführer der Björn Steiger Stiftung
Mitte: Prof. Dr. Christoph Moench - Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery - Ehrenpräsident der Bundesärztekammer und Mitglied des Präsidialrats der Björn Steiger Stiftung, Prof. Dr. Andreas Pitz, Direktor des Instituts für Gesundheits- und Life Science Recht der Technischen Hochschule Mannheim
Hinten: Dr. Torsten Gerhard - OPPENLÄNDER Rechtsanwälte, Béla Anda - Leiter der Kommunikation der Björn Steiger Stiftung


Bildnachweis und Copyright für alle Bilder: Björn Steiger Stiftung

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