4.12.2021 Vor genau 50 Jahren, am 6. Dezember 1971, schenkte die Björn Steiger Stiftung jedem der damals elf Bundesländer einen voll ausgerüsteten Rettungswagen mit medizinischer Ausstattung. Dies war die Initialzündung für den Aufbau des modernen Rettungsdienstes in Deutschland. Was heute selbstverständlich ist, war damals noch Neuland: Präklinische Notfallversorgung vom Unfallort bis in die Notaufnahme statt bloßer Transport ins nächste Krankenhaus. Doch nach fünf Jahrzehnten Rettungsdienst in Deutschland gibt es dringenden Reformbedarf. Vor allem infolge fehlender einheitlicher Standards droht die Notfallhilfe in Deutschland selbst immer mehr zum Notfall zu werden.
Am Nikolaustag 1971 begann in Stuttgart die sogenannte „Rettungsdienst-Rallye“ der Björn Steiger Stiftung, eine Sternfahrt durch ganz Deutschland. Eine Woche lang, vom 6. bis zum 12. Dezember, tourten Siegfried und Ute Steiger durch die gesamte Bundesrepublik, um die Fahrzeuge persönlich zu übergeben. Unterstützt wurden sie dabei von zahlreichen prominenten Paten wie Schlagersänger Rex Gildo, Fußball-Legende Uwe Seeler oder den TV-Moderatoren Dieter Thomas Heck und Wim Thoelke. 517.000 DM hatte die Stiftung für die Finanzierung mithilfe von Benefizveranstaltungen, Schallplatten für den guten Zweck sowie durch private Spenden gesammelt. Die Bezeichnung „Rallye“ war auch ein Tribut an den ehemaligen Rennfahrer Paul Pietsch, der zu den größten Einzelspendern gehörte.
Diese ungewöhnliche Aktion nach dem Motto: „Hier habt ihr einen Rettungswagen, nun fangt mit dem Rettungsdienst an“, war tatsächlich von Erfolg gekrönt. Noch vor Weihnachten 1971 erklärten die Landesregierungen von Hessen, Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Schleswig-Holstein, ihre Rettungsdienste nach den Vorschlägen der Stiftung ausbauen zu wollen. Denn was aus heutiger Sicht kaum vorstellbar erscheint, war damals traurige Realität: Gleich für mehrere Bundesländer waren diese Fahrzeuge die ersten richtigen Rettungswagen überhaupt. Vielerorts gab es damals keinen modernen Rettungsdienst, sondern lediglich unbegleitete Krankentransporte ohne medizinische Notfallversorgung.
Bis Anfang der 1970er Jahre war das Rettungswesen in Deutschland nicht flächendeckend staatlich organisiert, sondern wurde überwiegend der Initiative von gemeinnützigen Hilfsorganisationen vor Ort überlassen, die wiederum auf das ehrenamtliche Engagement von Freiwilligen angewiesen waren. Erreichbar waren diese Helfer meistens auch nur für Ortskundige, denn die einheitlichen Notfallnummern 110 und 112 wurden erst 1973 eingeführt, nachdem die Björn Steiger Stiftung das Land Baden-Württemberg und die Bundesrepublik Deutschland verklagt hatte. Auch zwischen den Krankentransportwagen, so die korrekte Bezeichnung, gab es keine Kommunikation, denn die vorhandenen Fahrzeuge verfügten nicht über Funkgeräte. An Bord befanden sich lediglich eine Trage, einfaches Verbandsmaterial und manchmal auch eine Sauerstoff-Flasche. Außer in Großstädten waren die Fahrer in der Regel allein unterwegs.
Dementsprechend lange konnte es dauern, bis im Notfall Hilfe eintraf, geschweige denn der Patient medizinisch versorgt wurde. Die Überlebenschance von Unfallpatienten war damit in der Bundesrepublik Deutschland bis Anfang der 1970er Jahre mehr oder weniger Glückssache. So verstarben beispielsweise im Jahr 1964 nach Angaben des Deutschen Roten Kreuzes 28 Prozent der Opfer noch am Unfallort und weitere zehn Prozent auf dem Weg ins Krankenhaus.
Eines dieser vielen Schicksale war der achtjährige Björn Steiger, der am 3. Mai 1969 auf dem Heimweg vom Schwimmbad von einem Auto angefahren wurde. Obwohl seine Verletzungen eigentlich nicht schwer waren, starb Björn auf auf dem Weg ins Krankenhaus am Schock, weil der sofort alarmierte Krankenwagen erst nach 56 Minuten eintraf. Es war diese persönliche Tragödie der Familie Steiger, die im Juli 1969 zur Gründung der Stiftung führte, die sich von nun an dem Ziel widmete, die Notfallhilfe in Deutschland grundlegend zu verbessern. Keine anderen Eltern sollten das durchmachen müssen, was die Steigers selbst erlebt hatten, nur weil Hilfe nicht rechtzeitig eintraf.
Viele der Neuerungen, welche die Björn Steiger Stiftung in über 50 Jahren im modernen deutschen Rettungswesen angestoßen hat, ist heute für alle Bürger selbstverständlich: Rettungs- und Notarztwagen mit modernster Medizintechnik und geschultem Personal, die einheitlichen Notrufnummern 110 und 112, Luftrettung und Organtransporte, Notruftelefone oder das Baby-Notarztwagensystem „Felix“. Nicht wenige davon hat die Stiftung außerdem erfolgreich in alle Welt exportiert, in Länder wie China oder Somalia. Doch im eigenen Land stößt die Notfallhilfe immer wieder an ihre Grenzen. Auch was selbstverständlich erscheint, darf nicht sich selbst überlassen werden. Denn in 50 Jahren sind nicht ein einheitliches, sondern mindestens 16 verschiedene Rettungswesen in Deutschland entstanden. Doch Notfälle machen bekanntlich nicht an Landesgrenzen halt.
Wieviel der deutschen Politik dieses mühsam aufgebaute moderne Rettungswesen bis heute wert ist, lässt sich vielleicht am eindringlichsten durch diese einfache Tatsache verdeutlichen: Die Bürger erwarten im Unglücksfall selbstverständlich eine medizinische Notfallrettung, aber der Staat bezahlt nur einen Krankentransport. Denn vergütet wird den Rettungsdiensten im deutschen Gesundheitssystem tatsächlich nur der Transport ins Krankenhaus, nicht aber die präklinische notfallmedizinische Behandlung ab Unfallort. Trotzdem müssen die Rettungsdienste Medikamente, Instrumente und qualifiziertes Personal in ihren Fahrzeugen für die Erstversorgung vorhalten. Endet der Rettungseinsatz vor Ort ohne Krankentransport, bleiben die Rettungsdienste komplett auf den Kosten sitzen. Die Folge: Überlastete Rettungskräfte und viele teure Krankenhausaufenthalte, die medizinisch eigentlich nicht zwingend notwendig wären.
„Auch nach fünf Jahrzehnten verfügt Deutschland noch über keinen einheitlichen Stand in der Notfallversorgung. Denn diese ist in jedem Bundesland und innerhalb der Bundesländer teilweise von Landkreis zu Landkreis, von Stadt zu Stadt und letztlich sogar in jedem Rettungsdienstbereich unterschiedlich organisiert. Die Notfallversorgung in Deutschland ist damit längst selbst zum Notfall geworden“, erklärt Pierre-Enric Steiger, Präsident der Björn Steiger Stiftung.
„Reformbedarf besteht an vielen Stellen, und das oberste Gebot hierfür lautet ‚Bundeseinheitlichkeit‘. Wenn wir eine funktionsfähige, wirksame und effiziente Notfallversorgung in Deutschland wollen, dann werden wir an bundeseinheitlichen Standards nicht vorbeikommen, sowohl in der Gesetzgebung als auch bei der Finanzierung, bei der Berufsausbildung, bei den Qualitätsstandards, bei der Vernetzung der Leitstellen oder beim Zugriff auf Gesundheitsdaten wie die elektronische Patientenakte. Hier sollten wir uns ein Beispiel an unseren österreichischen Nachbarn nehmen, die auf diesem Gebiet bereits sehr viel weiter sind als wir. Die Ergebnisse geben ihnen Recht“, so Steiger.
Die größten Probleme und den dringendsten Handlungsbedarf hat die Björn Steiger Stiftung in ihrem Positionspapier „Die Zukunft der Notfallversorgung“ vom November 2021 zusammengefasst. Es enthält 20 Forderungen für eine zukunftsfähige Reorganisation der Notfallversorgung in Deutschland. Dazu gehören unter anderem:
Erarbeitet wurden diese Forderungen vom diesjährigen „Forum Rettungsdienst“, das mehrfach im Jahr tagt und alle zwei Jahre den „Rettungsdienstkongress“ der Björn Steiger Stiftung ausrichtet. Darin diskutieren Fachleute wie Notärzte, Wissenschaftler und Vertreter von Leitstellen, Krankenkassen und Rettungsdiensten auf Einladung der Stiftung die aktuellen Herausforderungen für die Notfallversorgung.
Weitere Beiträge